Warum Alexander van der Bellen
Russland einst die Treue schwur

Über 130 Jahre lang ist Russland die Heimat der Familie Van der Bellen gewesen, mindestens vier Generationen der Vorfahren des österreichischen Präsidentschaftskandidaten lebten im westrussischen Pskow. Ururgroßvater Abraham war Militärarzt. Nachdem dessen Sohn Alexander Russland die Treue schwur, wurde die Familie in den russischen Adelsstand erhoben.
Historiker und Archivar Valeri Kusmin hat speziell für Sputnik im Pskower Archiv spannende, bislang unveröffentlichte Details über die russischen Wurzeln Alexander van der Bellens recherchiert.
Die frühen Anfänge
Zar Peter der Große holte im 18. Jahrhundert im Zuge seiner umfassenden Reformen europäische Spezialisten verschiedener Berufe nach Russland: Wissenschaftler, Militärs, Schiffsbauer, Architekten, Ärzte, Handwerker und viele mehr. Die Ausländer hatten die Aufgabe, den Fortschritt in allen möglichen Bereichen des ambitionierten Russischen Reiches voranzutreiben.

Der erste Repräsentant der Familie Van der Bellen kam dann auch Ende des 18. Jahrhunderts ins Gouvernement Pskow. Im Laufe des 19. Jahrhunderts tauchte der Name in offiziellen Dokumenten als Von-der-Bellen, Vonderbellen, Von Derbellen usw. auf.
Vom Freiwilligen zum Stabsarzt
Über den Gründer der Pskower Familie Van der Bellen ist nicht viel überliefert. Johann Abraham Van der Bellen stammte Dokumenten zufolge aus den Niederlanden. 1787 trat er im Moskauer Generalhospital (heute Zentrales Klinisches Militärkrankenhaus Nikolai Burdenko) als Freiwilliger seinen Dienst an. Etwa im Jahr 1793 kam er nach Pskow – und wurde dort Stabsarzt. Bekannt ist, dass er während des Baus des ersten Gebietskrankenhauses 1803 als Klinikdirektor tätig wurde – und dafür gar auf Entlohnung verzichtete.
Während des Russisch-preußisch-französischen Krieges 1806-1807, als Russland kaum seine Kriegsgefangenen unterhalten konnte, zeigte sich Van der Bellen als wahrer Humanist: Schon nach dem Tilsiter Frieden von 1807 wurden französische Kriegsgefangene durch das Gouvernement Pskow geführt. Ihre medizinische Versorgung wurde eben jenem Abraham Van der Bellen anvertraut. Da es im Gesundheitswesen des Gouvernements allgemein schon Schwierigkeiten gab und zeitweise selbst russische Soldaten kaum behandelt werden konnten, gerieten die Franzosen in eine sehr schwierige Lage. Mit eigenen Mitteln kaufte Van der Bellen dann Zelte für die Unterbringung. Außerdem versorgte er sie mit Arzneimitteln.
Trauungsschein von Abraham Van der Bellen und Elisabeth von Römer von 1801
© Valeri Kuzmin
Krieg gegen Napoleon

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Abraham Van der Bellen im Krieg gegen Napoleon (in Russland bekannt als Vaterländischer Krieg 1812) gekämpft, denn im selben Jahr bekam er mit den St.-Wladimir-Orden verliehen, mit dem sowohl militärische als auch zivile Verdienste gewürdigt wurden. Dank diesem Orden wurde Van der Bellen dann ins staatliche Adelssystem aufgenommen. Diese erste Van-der-Bellen-Generation besaß bereits mehrere Grundstücke im Gouvernement Pskow.

Am 16. April 1801 heiratete der Stabsarzt Abraham Van der Bellen in Pskow Elisabeth von Römer. Ein Jahr später kam ihr Sohn Alexander zur Welt. Ausgerechnet er musste dann die schwierige Aufgabe erfüllen, die Rechte seiner Familie auf den Adelstitel zu beweisen. Nach seinem Wehrdienst quittierte Leutnant Alexander seinen Dienst und übernahm künftig verschiedene Ämter im Gouvernement Pskow. 1839 wurde er regionaler Adelsmarschall.
Treueeid auf Russland und Standeserhebung
Im November 1839 wandte sich Alexander Van der Bellen an Zar Nikolaus I. mit der Bitte, auch seine Kinder in den Adelsstand zu erheben. Eine Sonderkommission stellte dann jedoch fest, dass einige wichtige Dokumente fehlten wie beispielsweise die Urkunde über den Treueeid des Vaters Abraham auf Russland.
Russisch-französische Karte von 1821
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Gemäß den damaligen Gesetzen durfte zwar jeder Ausländer, der nach Russland kam, die russische Staatsbürgerschaft beantragen. Dafür musste er allerdings den Treueeid bei den regionalen Behörden ablegen. Dafür war ein Amtsträger selben Glaubens verantwortlich, zwei Exemplare des Eides mussten unterzeichnet werden: Ein Exemplar wurde bei den Behörden aufbewahrt, das zweite an den Senat geschickt.

Es begann ein langer Briefwechsel Alexanders mit der Adelsversammlung. Nach dem Tod des Vaters konnte kaum mehr festgestellt werden, wo sich die Urkunde über den Treueeid befinden könnte. Trotzdem blieb man dabei, dass Alexander das Papier vorzulegen hatte. Für die Kleinstadt Pskow war das keine alltägliche Sache, was der Umstand bezeugt, dass der Eidablegung selbst die höchsten Beamten des Gebietes beiwohnten, darunter auch Gouverneur Fjodor Bartolomej, sein Stellvertreter Ippolit Potulow, der Gebietsstaatsanwalt und einige andere. Sie beglaubigten auch das Dokument mit ihren Unterschriften. In Anwesenheit des evangelisch-lutherischen Predigers Karl Rosenthal wurde Alexander „Von-der-Bellen" am 9. Dezember 1843 endlich vereidigt.
Fragment des Eidblatts Alexander Van der Bellens. 9. Dezember 1843:

„Ich, Alexander Von-der-Bellen, ehemaliger niederländischer Staatsbürger, verspreche und verpflichte mich (…), ohne die Erlaubnis oder Verfügung Seiner Kaiserlichen Majestät nicht ins Ausland zu reisen und keine Dienste fremden Staaten zu leisten sowie keine Freundschaft mit den Gegnern Seiner Kaiserlichen Majestät zu pflegen; (…) und falls mir im Sinne meines Dienstes Seiner Majestät ein Geheimnis anvertraut werden sollte, verpflichte ich mich, dieses Geheimnis zu bewahren und niemandem zu verraten, der es nicht kennen darf."
Damit gelang es Alexander Van der Bellen nach einem über fünfjährigem Briefwechsel letztlich doch sein Recht auf die Privilegien als Adeliger zu verteidigen.
Der Großvater
Alexander Van der Bellen Junior
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Alexander hatte, wie die Archive belegen, mehrere Kinder. 1859 kam Sohn Alexander zur Welt, der Großvater des heutigen österreichischen Präsidentschaftskandidaten, der 1917 den höchsten Posten im Gebiet Pskow bekleiden sollte.

Nach dem Studium war das Leben Alexander Van der Bellens Junior eng mit den regionalen Behörden verbunden. In den späten 1880er-Jahren begann im Russischen Reich eine Verwaltungsreform und der junge Spezialist bekam eine Stelle in der Gouvernements-Regierung. Er beschäftigte sich mit Eigentums- und Haushaltsverwaltung, Steuerabzügen, der Unterhaltung von Gebäuden, dem Straßenbau und vielen anderen Fragen der Infrastruktur. Um 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und noch vor Beginn der Revolution 1917, waren Verdienste und Autorität Alexander Van der Ballens jr. so groß, dass er zum Leiter des sogenannten „Semstwo", der Länderverwaltung des Pskower Gouvernements berufen wurde.
Doch dann begannen schwere Zeiten in und für Russland: der Krieg gegen Deutschland, der Erste Weltkrieg. Im westrussischen Gouvernement Pskow selbst gab es zwar keine Gefechte, aber seine Lage nahe der Frontlinie war spürbar. Es mangelte an Personal, da die jungen Männer in den Krieg ziehen mussten. Dieses Problem plagte gleichermaßen die Landwirtschaft, die Industrie, Finanzeinrichtungen – ganze Wirtschaftszweige wurden vernachlässigt. Pskow lag, logistisch gesehen, günstig, darum wurden viele Militärs hierher verlegt – mit bedeutenden Folgen. Von Jahr zu Jahr wurde die Situation schwieriger.
Zar Nikolaus II. verzichtete auf den Thron
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Und dann kam auch noch Revolution im Februar 1917: Zar Nikolaus II. verzichtete am 2. März in Pskow auf den Thron. Zu diesem Zeitpunkt war in der Stadt der Stab der Nordflotte untergebracht und 30.000 Soldaten stationiert. Im Gouvernement herrschte Hungersnot; sämtliche Wirtschaftsbeziehungen waren seit langem unterbrochen. Es mangelte an Brennstoff und Verkehrsmitteln. Die Lebensmittelpreise stiegen ständig, und im Sommer 1917 kam es zu Massenunruhen. Unter diesen neuen Bedingungen musste Alexander Van der Bellen als Leiter der regionalen Landschaftsverwaltung seinen Pflichten nachkommen.
Der Übergangskommissar
Nachdem der Zar abgedankt hatte, begann die Übergangsregierung mit der Umsetzung ihrer Reformen. Gouverneure wurden abgesetzt und durch Kommissare ersetzt. Der letzte Pskower Gouverneur Boris Kaschkarow gab seinen Posten auf, zu seinem Nachfolger wurde Alexander Van der Bellen. Nach Ansicht der provisorischen Regierung in Petrograd (Sankt Petersburg) hätte niemand besser als er die Situation in der Region einschätzen können.

Am 9. März wandte sich Van der Bellen an die Einwohner des Gebietes und bat sie um Unterstützung der Provisorischen Regierung: keine Massenunruhen, keine Plünderungen zu verüben.
Van der Bellen an Pskow
„Die Gewalt von oben gibt es nicht mehr. Beginnen Sie jetzt keine Gewalt von unten!"
Aber wie auch in Moskau gab es in Pskow ganz verschiedene, konkurrierende politische Kräfte. Die sogenannten Menschewiki und Sozialrevolutionäre starteten eine Kampagne gegen die von der Provisorischen Regierung ernannten Kommissare, die ihnen zufolge durch gewählte Führerfiguren ersetzt werden sollten. Und sie erreichten ihr Ziel: Am 22. Juli 1917 wurde Alexander Van der Bellen entlassen.

Es wäre sicherlich falsch, Alexander Van der Bellen Unfähigkeit vorzuwerfen. Er hatte binnen kürzester Zeit sowohl alte Probleme, die sich jahrzehntelang angehäuft hatten und von seinen Vorgängern nicht in den Griff bekommen worden, als auch täglich neu entstehende Fragen lösen müssen. Eine schier unmögliche Aufgabe.
Der deutsche Fotograf
Van der Bellen zeigte sich trotz alledem als anständiger Mensch. Im Sommer 1917 wurde ihm ein Bericht des städtischen Polizeichefs vorgelegt. Daraus ging hervor, dass noch im September 1914 der bekannte Pskower Fotograf Otto Parli wegen Spionage-Verdachts nach Olonez ausgewiesen worden war. Nach Auffassung der Polizei hätte er als Deutscher seine Kontakte zu Militärs nutzen und wichtige Informationen an den deutschen Generalstab weitergeben können.

Nach dem Machtwechsel im März 1917 setzte die Provisorische Regierung Beschlüsse dieser Art außer Kraft und Parli durfte sich in jeder beliebigen Stadt Russlands niederlassen. Der Pskower Polizeichef fragte den Kommissar, ob Parli aus der Stadt ausgewiesen werden solle. Alexander Van der Bellen sprach sich dagegen aus, und Parli blieb auch nach 1917 in Pskow.
Flucht aus Russland
Alexander van der Bellen, Vater des österreichischen Präsidentschaftskandidaten, (2.v.rechts) und seine Geschwister Konstantin, Irina, Natalya, und Georg David (v.l.n.r.)
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Alexander Van der Bellen war verheiratet. Am 8. Oktober 1898 kam sein Sohn Alexander, Vater des österreichischen Präsidentschaftskandidaten, zur Welt. Dieser besuchte von 1907 bis 1918 das Pskower Jungengymnasium.
Im Gebäude des damaligen Pskower Jungengymnasiums befindet sich auch heute noch eine Schule.
© Valeri Kusmin
Nach acht Klassen erhielt er ordnungsmäßig sein Reifezeugnis.
Die Abschlussnoten:*

Religion – 5 (sehr gut)

Russisch und Kirchenslawisch – 4 (gut)

Philosophie – 4 (gut)

Latein – 4 (gut)

Rechtskunde – 5 (sehr gut)

Mathematik – 3 (befriedigend)

Physik – 5 (sehr gut)


* Im russischen Notensystem war und ist 5 die beste Note, 1 die schlechteste.
Nach seinem Rücktritt blieb Vater Alexander Van der Bellen in Russland. Trotz der Oktober-Revolution und ihrer chaotischen Folgen im Land lebte die Familie zunächst weiter in Pskow. Davon zeugt die bis zum 3. Mai 1919 bezahlte Eigentumsversicherung. Aus dieser Zeit sind Steuerabfuhr-Listen der Pskower Einwohner erhalten geblieben, wo ebenfalls die Van der Bellens aufgeführt sind.
Eigentumssteuer-Listen der Einwohner Pskows, 1918

Eintragung unter Nr.50: Von der Bellen, Alexander Alexandrowitsch, Pskow, Kadetskaja, 3

Im Jahr 1918 lebte die Familie Van der Bellen demnach noch in Pskow, im Jahr 1919 schon nicht mehr. Nach der Etablierung der Sowjetmacht begann im Land die erste Terrorwelle, und die Van der Bellens verließen das Land.

Zuerst ließen sie sich in Estland nieder, von wo aus sie 1941 ins Deutsche Reich und einige Jahre später nach Österreich weiter übersiedelten.
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Zum Autor
Valeri Kusmin ist Mitglied der Russischen Gesellschaft der Historiker-Archivare und Leiter des Staatlichen Archivs des Gebietes Pskow
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Redaktion
  • Sergej Pirogow
  • Peggy Lohse

DESIGN
  • Maxim Kataev