Novemberrevolution 1918: „Revolution von oben" und ein angeblicher Dolchstoß
von Tilo Gräser
Novemberrevolution 1918: „Revolution von oben" und ein angeblicher Dolchstoß
von Tilo Gräser
Die Ereignisse im November 1918 in Deutschland hatten eine Vorgeschichte. Eine dreiteilige Sputnik-Beitragsserie wirft einen Blick darauf ebenso wie auf das, was am 9. November 1918 geschah. Im ersten Teil geht es um die Lage kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges und die Frage, wer das Ende des Kaiserreiches wollte.
Was als „Novemberrevolution" bezeichnet wird, begann eigentlich schon im Oktober 1918. Allgemein gilt als Höhepunkt die doppelte Ausrufung der Republik am 9. November 1918 durch den sozialdemokratischen Politiker Philipp Scheidemann und den linkssozialdemokratischen Kriegsgegner Karl Liebknecht bestand.

Stellung in einem zerstörten Wald mit kahlen Baumstümpfen. Oktober 1915, Argonnen, Frankreich.
Zugleich gab es eine längere Vorgeschichte, in Folge des 1914 begonnenen Ersten Weltkrieges mit seinen Zerstörungen, Millionen Toten und Verwundeten, Hunger und Elend, selbst im Hinterland. Mit dem großen Streik im Januar 1918 zeigte sich in der Reichshauptstadt eine erste aktive Gruppe, die zielstrebig für Veränderungen eintrat: Die Revolutionären Obleute.

Allgemein gilt, dass eine klassische revolutionäre Situation herangereift
war. In einer solchen können die bisher Herrschenden ihre Herrschaft nicht in der bisherigen Weise aufrechterhalten. Gleichzeitig beginnen die Volksmassen sich gegen das Ausmaß von Not, Elend und Unterdrückung aktiv zur Wehr zu setzen. Dann reicht zumeist ein kleiner Anlass, um einen Aufstand oder gar eine Revolution in Gang zu setzen.
Revolution vor dem Ausbruch
All das war in Deutschland im Jahr 1918 gegeben, wie sich die Historiker egal welcher Richtung einig sind. In den DDR-Geschichtsbüchern wurde das so erklärt:
„Große Teile der deutschen Arbeiterklasse drängten auf eine sofortige Beendigung des ersten Weltkrieges und waren nicht mehr bereit, sich mit dem monarchistischen Herrschaftssystem abzufinden."
Der DDR-Historiker Wolfgang Ruge schrieb 1969 in seinem Buch „Weimar – Republik auf Zeit" über die Ereignisse im Herbst 1918: „Die Arbeiter und Soldaten hatten sich erhoben, um ein System zu vernichten, in dem der Mensch immer billiger und das Brot immer teurer wurde, ein System, das alle Reichtümer, alle Macht, alle Verfügungsgewalt über Leben und Tod in die Hände einer kleinen Gruppe von Finanzherren, Industriemagnaten und Junkern und des in ihrem Auftrage agierenden Staates legte."
Arbeiter-Demonstration in Berlin 1919.
Sputnik/Moskauer Museum der Revolution
„Die wesentlichen Forderungen der protestierenden Massenbewegung" seien „Frieden, Freiheit, Brot!" gewesen, schrieb der bundesdeutsche Historiker Wolfram Wette in seinem 2008 erschienenen Buch über den „Militarismus in Deutschland". „Der letzte Anstoß zum Umsturz des kaiserlichen Militärstaates kam von Unteroffizieren und Mannschaftssoldaten der Kriegsmarine, die im Zivilberuf qualifizierte Facharbeiter und zum Teil gewerkschaftlich organisiert waren", heißt es dort. Die Matrosen wollten sich nicht von der kaiserlichen Marineführung in einer letzten „heroischen Schlacht", die nur Untergang und Tod bedeutete, verheizen lassen.
Matrosen als Revolutionäre
Zwar beteiligten sich nicht alle gleich daran, so dass die vom Schlachtschiff „Thüringen" ausgehende Meuterei im Oktober 1918 anfangs niedergeschlagen wurde, wie die Berichte über die Ereignisse zeigen. Aber als die dafür gefangen genommenen Matrosen bestraft werden sollte, breitete sich der Widerstand aus. „Von der Matrosenrevolte in Wilhelmshaven und in Kiel ging dann das Signal zur deutschen Revolution vom November 1918 aus", so Wette.
„Die Aufstandsbewegung breitete sich in wenigen Tagen im ganzen Deutschen Reich aus; zunächst im Küstenbereich der Nord- und Ostsee – Lübeck, Hamburg, Wismar, Schwerin, Rostock, Warnemünde, Brunsbüttel, Cuxhaven, Bremen, Bremerhaven. Am 7. November folgten die Militärrevolte in München und der Sturz der Monarchie in Bayern. Die Revolution überflutete ganz Nord-, Süd- und Ostdeutschland und erreichte schließlich, vergleichsweise spät, am
9. November, die Reichshauptstadt Berlin. In vielen Städten wurden jetzt

Soldatenrat des Linienschiffes "Prinzregent Luitpold" im November 1918
Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die vorübergehend die politische Macht übernahmen."

Der erste Arbeiter- und Soldatenrat wurde am 4. November 1918 in Kiel gebildet. Das kürzlich erschienene Buch „Aufstand der Matrosen" von Dirk Liesemer zeichnet in Form eines Tagebuches die Ereignisse vom 28. Oktober bis 12. November in Deutschland vor 100 Jahren nach.
Hilfe für die Sozialdemokraten
Allerdings gehört zur Vorgeschichte der damaligen Ereignisse das, was der Historiker Sebastian Haffner etwa 50 Jahre später, 1969, so beschrieb: „Im Angesicht der äußeren Niederlage öffneten 1918 die Türhüter des Kaiserreichs den sozialdemokratischen Führern selbst das lange versperrte Außentor und ließen sie, nicht ohne Hintergedanken, freiwillig in den Vorhof der Macht; und nun sprengten die sozialdemokratischen Massen, von draußen hereinstürmend und ihre Führer überrennend und mit sich reißend, die letzten Tore zum Machtinnersten. Nach einem halben Jahrhundert des Wartens schien die deutsche Sozialdemokratie im November 1918 endlich am Ziel."

Nachzulesen ist das in dem Buch des bürgerlichen Historikers, das zuerst unter dem Titel „Die verratene Revolution" erschien. Inzwischen wird es unter dem weniger deutlichen Titel „Die deutsche Revolution 1918/19" weiter veröffentlicht.
Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte im preußischen
Abgeordnetenhaus in Berlin, 16.-20.12.1918.
Auf der Ministerbank von rechts nach links die Volksbeauftragten
der Sozialdemokraten: Barth, Ebert, Landsberg, Scheidemann.

Bundesarchiv, Bild 146-1972-030-63 / CC-BY-SA 3.0 DE
Haffner schrieb vor 50 Jahren, dass ein führender Vertreter des deutschen Kaiserreichs dessen tatsächliches Ende einleitete, bevor die Matrosen revoltierten: „Er verordnete Deutschland die parlamentarische Demokratie, und er brachte die SPD in die Regierung und ans Ziel ihrer Wünsche. Aber als Morgengabe drückte er ihr die Niederlage in die Hand, und was er jetzt von ihr verlangte, das war nicht mehr die Suche nach einem Verständigungsfrieden, sondern die Kapitulation."
General will Waffenstillstand
Der Mann, der das am 29. September 1918 in die Wege leitete, war General Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister und Stellvertreter Paul von Hindenburgs, des Chefs der dritten Obersten Heeresleitung (OHL). „Das Ereignis des 29. September blieb noch jahrelang Staatsgeheimnis", so Haffner. Der General forderte laut dem Historiker angesichts der Lage der deutschen Truppen an der Westfront nicht mehr und nicht weniger als ein Waffenstillstandsgesuch binnen 24 Stunden – nachdem er bis kurz zuvor zu den Predigern des Endsieges gehört hatte.
„Ludendorffs festes Ziel war von dem Augenblick an, in dem er begann, die ‚Handhabung der Niederlage' zu planen: Die Armee muss gerettet werden – ihre Existenz und ihre Ehre."

General Erich Ludendorff
Für ihre Ehre aber „musste das Waffenstillstandsgesuch von der Regierung ausgehen, nicht etwa von der Obersten Heeresleitung. Es musste politisch motiviert werden, nicht militärisch."

Dafür sei das Gesuch mit einem Friedensangebot an die westlichen Alliierten verknüpft worden, das von den Parteien der Reichstagsmehrheit ausgehen sollte, die seit langem für einen Verständigungsfrieden eingetreten seien. Also mussten diese in die Regierung aufgenommen werden oder diese gar stellen.
Um ihnen die Übernahme der Verantwortung für den zu erwartend schweren Friedensschluss schmackhaft zu machen, sei das Angebot mit einem Verfassungsumbau garniert gewesen: dem Übergang zur parlamentarischen Regierungsform.
Merkwürdigkeiten eines historischen Tages
Das wäre auch der Entente entgegengekommen, die angab, einen Krieg für Demokratie zu führen und forderte, dass der Kaiser in Berlin abdankt. „Es war Ludendorffs letzte große Operation", so der Historiker, durchgeführt „mit generalstabsmäßiger Präzision", einschließlich des Überraschungseffekts für die deutsche politische und militärische Führung. Gemeinsam mit dem damaligen Staatsekretär des Auswärtigen, Admiral Paul von Hintze, habe der General an diesem 29. September von einer „Revolution von oben" gesprochen. Die wurde dann in Gang gesetzt, selbst der Kaiser habe der Parlamentarisierung und dem Waffenstillstand zugestimmt.
Chef der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg (l.), sein Stellvertreter Erich Ludendorff (r.) und der deutsche Kaiser Wilhelm II.
National Archives and Records Administration

„Das Merkwürdigste an den Vorgängen dieses historischen Tages ist, wie undramatisch und gedämpft, wie glatt und selbstverständlich sich alles abspielte", gerade angesichts von vier Jahren blutigem Weltkrieg zuvor, stellte Haffner 50 Jahre später fest. „Die verfassungsmäßigen Gewalten des Kaiserreichs hatten an diesem 29. September kampflos kapituliert; sie hatten in gewissem Sinne schon abgedankt." Allerdings hätten die beschlossenen Veränderungen in der deutschen Politik, bis zur Mehrheits-SPD (MSPD) unter Friedrich Ebert, und beim deutschen Militär „wie eine Bombe" eingeschlagen.

Das von Ludendorff geplante und durchgesetzte Abwälzen der Verantwortung für die Niederlage auf die führenden rechten Sozialdemokraten war die Grundlage für die kurz danach verbreitete „Dolchstoßlegende". Er habe die Veränderungen auch damit begründet, dass unbedingt verhindert werden müsste, dass mit den im Westen weiter vorrückenden Truppen einschließlich denen der USA die Revolution nach Deutschland getragen wird.
Vorstufe zur Republik
Der General hat laut Haffner in den folgenden Tagen den Parteien der Reichstagsmehrheit angeboten, „was sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hatten: die volle Parlamentarisierung, die ganze Macht. Ein unwiderstehlicher Köder! Nur freilich, der Köder war vergiftet. An ihm hing die Verantwortung für die Niederlage, die totale Niederlage, die nach dem Waffenstillstandsgesuch nicht mehr aufzuhalten war."

Deutschland habe am Morgen des 5. Oktober 1918 erfahren, dass es von jetzt ab eine parlamentarische Demokratie sei, mit einer neuen Regierung, „in der, unter einem liberalen badischen Prinzen als Kanzler, die Sozialdemokraten, die ‚Scheidemänner', den Ton angaben; und dass diese Regierung sofort, als Allererstes, ein Friedens- und Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten gerichtet habe."

Rückkehr der deutschen Truppen von der Westfront. Dezember 1918, Berlin.
So war das Land noch keine Republik, aber eine konstitutionelle Monarchie ähnlich der in Großbritannien, in der das Parlament über die Regierung bestimmte, nicht mehr der Kaiser. Die Monarchie wollte selbst MSPD-Führer Ebert nicht abschaffen, wie der Historiker betonte. Von den Vorgängen am 29. September 1918 habe die Öffentlichkeit in Deutschland damals und lange Zeit danach nichts erfahren.
Untergehende Neuigkeiten
Die „ungeheure Nachricht" von Anfang Oktober über den angekündigten Waffenstillstand hat die ebenfalls verkündete durchgreifende Verfassungsänderung und Parlamentarisierung „fast erschlagen", ist bei Haffner zu lesen. Ebert habe das bereits am 5. Oktober – einen Monat vor dem 9. November – im Reichstag als „Wendpunkt der Geschichte Deutschlands" und „Geburtstag der deutschen Demokratie" bezeichnet.
Australische Soldaten durchsuchen gefangene Deutschen.
Oktober 1918, Frankreich.

Australian War Memorial
„Aber kaum einer hörte hin", fügte der Historiker hinzu. Verfassungsänderungen seien für die Massen in dem Augenblick „verhältnismäßig uninteressant" gewesen. „Was zählte, war das Kriegsende, war die Niederlage, war die Kapitulation, das Ende des Schreckens und das Ende mit Schrecken: und das spaltete blitzartig das ganze Land in zwei Lager. Die einen vernahmen es mit Verzweiflung, die anderen mit Erleichterung."
Periode zwischen Krieg und Frieden
Haffner wies daraufhin, dass der Krieg dennoch im Oktober 1918 weiterging, samt neuer Gestellungsbefehle für die nun Siebzehnjährigen. Unterdessen hatte die neue Reichsregierung mit sozialdemokratischer Beteiligung die deutsche Presse aufgefordert: „Unter allen Umständen muss der Eindruck vermieden werden, als gehe unser Friedensschritt von militärischer Seite aus." Damit habe sich die Parlamentsregierung der Obersten Heeresleitung „ans Messer" geliefert, schätzte Haffner ein – oder sich gewissermaßen selbst den Dolch in den Rücken gerammt.

Deutsche Delegation auf dem Weg zu Waffenstillstandsverhandlungen.
Aus seiner Sicht war der Oktober vor 100 Jahren „eine zwielichtige Periode", „eine Periode zwischen Krieg und Frieden, zwischen Kaiserreich und Revolution, zwischen Militärdiktatur und Parlamentsdemokratie". In dieser Zeit habe sich eine „explosive, unberechenbare Massenstimmung" herausgebildet, aus Friedenssehnsucht, Enttäuschung über die Herrschenden und Regierenden, gemischt mit einer „bitter gereizten, fast schon unerträglichen Ungeduld" über den ausbleibenden Waffenstillstand.
Die dritte Note des US-Präsidenten Woodrow Wilson vom 20. Oktober 1918 in Reaktion auf das deutsche Waffenstillstandsgesuch habe in Frage gestellt, ob sich durch die eingeleitete Reform hin zu einer konstitutionellen Monarchie wirklich grundlegend etwas an den deutschen Herrschaftsverhältnissen geändert habe. Danach sei in Deutschland plötzlich über die „Kaiserfrage" und die „Revolution" geredet worden.
100 Jahre Novemberrevolution in Deutschland
Dieser Beitrag ist ein Teil der Sputnik-Reihe zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution. Um zwei weitere Beiträge dieser Serie sowie andere Artikel von Sputnik-Autoren über die historischen Ereignisse zu lesen, die zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der deutschen Republik führten, klicken Sie auf den Button unten.
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