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Russischer General zerpflückt Mythen über „sowjetischen Krieg in Afghanistan"
Tony Devon
Generalleutnant Boris Gromow. Copyright: Sputnik, Solomon Lulischow.
Am Donnerstag begehen Russland und 14 ehemalige Sowjetrepubliken den 29. Jahrestag des Abzugs der sowjetischen Truppen aus der Demokratischen Republik Afghanistan. Im Gespräch mit Sputnik räumt ein Militärexperte mit den Mythen über den „Sowjetisch-afghanischen Krieg" auf.
Der neun Jahre dauernde Konflikt war eine große Episode des Kalten Kriegs, seine Folgen beeinflussen bis heute das internationale Sicherheitssystem und die regionale Stabilität.

Obwohl der amerikanische Afghanistan-Krieg bereits seit 16 Jahren andauert, war der sowjetische Militäreinsatz dank westlichen „Militärexperten" mit zahlreichen Irrtümern und Ungenauigkeiten verbunden.

Um die meistverbreiteten Mythen über den Konflikt zu zerpflücken, sprach Sputnik mit Generaloberst Boris Gromow, dem letzten Kommandeur der 40. Armee, die das Rückgrat der sowjetischen Truppen in Afghanistan bildete.
Generalleutnant Boris Gromow. Copyright: Sputnik, Solomon Lulischow.
Mythos 1: „Sowjetisch-afghanischer Krieg"
„Der allererste Irrtum über den Konflikt steckt in seiner Bezeichnung", sagte General Gromow.
„Die Bezeichnung ‚Sowjetisch-afghanischer Krieg' sieht vor, dass der Konflikt einen gegenseitigen Charakter hat, also dass es eine Konfrontation zwischen der Sowjetunion und Afghanistan gab, doch das ist de facto falsch."

Laut General Gromow wurde dieser Mythos im Westen während des Kalten Kriegs popularisiert, um die Mudschaheddin zu legitimieren, die von den USA und ihren Verbündeten unterstützt wurden.
„Die sowjetische Armee war legitim in Afghanistan präsent, weil die Sowjetunion offiziell von der afghanischen Regierung 1979 eingeladen wurde"
— führte Gromow aus und zog eine Parallele zu der Verstärkung der russischen Truppen in Syrien im September 2015.
„Der afghanische Konflikt war de facto ein innerer Kampf zwischen der legitimen Regierung mit der Volksdemokratischen Partei Afghanistans an der Spitze und den Mudschaheddin, Duschmanen, Banden von Islamisten und anderen Rebellen."

Man dürfe den komplizierten und dynamischen Charakter des Konfliktes nicht als einen schwarz-weißen Zusammenstoß zwischen der Sowjetunion und Afghanistan darstellen, obwohl der afghanische Konflikt ein eindeutiges internationales Element in sich gehabt habe.

Laut Gromow ist selbst der Begriff „Krieg" wegen der niedrigen Intensität der Kampfhandlungen unangemessen für die Beschreibung des Afghanistan-Konfliktes.
Afghanische Mudschahedin. Copyright: AFP/ZUBAIR MIR
Mythos 2: „Die Sowjetunion verlor den Afghanistan-Krieg"
„An ihrem Höhepunkt zählte die 40. Armee nur 108.800 Soldaten, was eindeutig zeigt, dass niemand einen klassischen militärischen Sieg in Afghanistan anstrebte."
Der wohl populärste Mythos über die sowjetische Kampagne in Afghanistan ist, dass sie mit der Niederlage der Sowjetunion geendet habe, wobei das Ansehen Afghanistan als „Friedhof der Imperien" gefestigt wurde.

„Das ist eine sehr ungenaue Beschreibung der Ereignisse", betonte Gromow. „Erstens muss hervorgehoben werden, dass ich als Kommandeur der sowjetischen Armee in Afghanistan nie Befehle bekommen habe, in Afghanistan zu siegen."
Während des Vietnam-Kriegs bauten die USA einen Truppenverband, der fünfmal so groß wie die 40. Armee war, auf einem Territorium, das etwa fünfmal kleiner als Afghanistan ist, aus.
Anm. d. Red
Gromow hob hervor, dass die Mission der 40. Armee in Afghanistan in der Gewährleistung günstiger Bedingungen für die Existenz und Entwicklung der legitimen Regierung bestanden habe.

„Jene, die den Ausgang der Kampagne unter dem Blickwinkel ‚Sieg-Niederlage' betrachten, verstehen den schwierigen Charakter der Militäroperationen gegen Partisanen nicht", so der General und fügte hinzu: „Ich bin fest der Meinung, dass die sowjetischen Soldaten die gestellte Aufgabe in Afghanistan erfolgreich erfüllten."
Sowjets Truppen in Afghanistan. Copyright: AP/Liu Heung Shing
„Zum Zeitpunkt unseres Abzugs war die Regierung imstande, autonom die Ordnung in Afghanistan aufrechtzuerhalten unter der Bedingung, dass sie weiterhin Finanz- und Wirtschaftshilfen aus der Sowjetunion bekommen wird", sagte Gromow, der für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan zuständig war.
Sowjetische Truppen kontrollierten den größten Teil Afghanistans im Laufe der gesamten Kampagne, es wurde keine Sicherungswache von Mudschaheddin trotz der wachsenden ausländischen Finanzierung ergriffen.

Zugleich schuf die legitime Regierung unter Führung von Mohammed Nadschibullah erfolgreich effektive Sicherheitsorgane und nutzte die zunehmende Popularität dank der Politik der Nationalen Versöhnung.

Den Sturz der Regierung von Nadschibullah durch die Mudschaheddin erläuterte Gromow damit, dass die Sowjetunion zerfallen sei und der außenpolitische Kurs der neuen russischen Führung die Finanzhilfe an Nadschibullah ausgeschlossen habe.

Freigegebene CIA-Dokumente bestätigen ebenfalls, dass die Mudschaheddin die legitime Regierung nicht hätten stürzen können, hätte die Sowjetunion weiterhin Finanzhilfe geleistet.
Sowjetische Soldaten vor dem Abzug aus der Demokratischen Republik Afghanistan. Copyright: AFP/DANIEL JANIN
Mythos 3: „Gewalt, Gewalt, nichts außer Gewalt"
„Die Sowjetunion führte zahlreiche zivile, wirtschaftliche und politische Programme durch, die auf die Verbesserung der Bedingungen der Einheimischen gerichtet waren", betonte General Gromow.
General Gromow zerpflückte ebenfalls einen Mythos, laut dem sowjetische Soldaten und Offiziere die Operation mit „unglaublicher Grausamkeit" gegenüber der afghanischen Bevölkerung durchgeführt hätten.

Die Geschichten über erbarmungslose sowjetische Soldaten hätten jene ausgedacht, die die Mudschaheddin unterstützten, um deren Finanzierung und politische Legitimität zu erhöhen, so der General.

„Allein 1982 führte die 40. Armee 127 zivile Operationen durch, die den Umbau von Gebäuden, Straßenbau, die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten unter Einheimischen sowie Kulturveranstaltungen umfassten." Darüber hinaus seien auch zahlreiche zivile Spezialisten und Wirtschaftsberater eingesetzt worden.

Die Behauptungen, dass die Sowjetunion in Afghanistan zur Taktik der „verbrannten Erde" gegriffen habe, seien absolut unprofessionell.
Der afghanische Präsident Mohammed Najibullah (in d. M.) bei der sowjetischen Soldaten vor dem Abzug der Truppen aus der Demokratischen Republik Afghanistan. Copyright: AFP/DANIEL JANIN
„Jeder Offizier, der einst an Operationen zum Kampf gegen Aufständische teilnahm, versteht, dass gute Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung von sehr großer Bedeutung für den Erfolg der gesellschaftspolitischen Handlungen und eine niedrige Opferzahl sind, was die allergrößte Priorität ist."

„Wir haben es sogar geschafft, Beziehungen zu einigen unserer Gegner aufzunehmen, wie dem verstorbenen Ahmad Schach Massud, zur Gewährleistung eines sicheren Abzugs unserer Soldaten"
— General Gromow
Sowjetische Truppen in Afghanistan. Copyright: AP/Alexander Sekretarev
Mythos 4: „Amerikaner machen's besser"
„Erstens standen wir zu unserem Wort und verließen wie versprochen Afghanistan, während die USA selbst nach dem angekündigten Abzug 2014 im Lande bleiben", sagte Gromow.
General Gromow nahm zudem Stellung zum andauernden US-amerikanischen Krieg in Afghanistan. Er räumte mit dem Mythos darüber auf, dass die USA angeblich erfolgreicher seien, und hob einige bedeutende Unterschiede zwischen der sowjetischen Operation und der der USA hervor.

Nach dem Abschluss der Operation Enduring Freedom Ende 2014 verdoppelten die USA bekanntlich ihr Truppenkontingent in Afghanistan auf nahezu 14.000 Mann.
Sowjets Soldaten während Abzug der Truppen aus Afghanistan. Copyright: AFP/PIERRE TAILLEFER
„Während unserer Präsenz kontrollierte die 40. Armee den größten Teil des Territoriums Afghanistans, wobei die Mudschaheddin gezwungen wurden, vom Untergrund aus vorzugehen, weil sie keine reale Macht im Lande hatten", so Gromow.
Zudem hob General Gromow den Unterschied zwischen einem operativen Herangehen der sowjetischen Armee und dem Vorgehen der US-Militärs hervor, die in Afghanistan seit fast 17 Jahren feststecken.

Das stehe im starken Gegensatz zu den jüngsten Informationen, laut denen die Taliban derzeit rund 70 Prozent der Gebiete in Afghanistan völlig kontrollieren bzw. dort frei agieren.
„Im Unterschied zu den Amerikanern, die dazu neigen, in ihren Stützpunkten zu sitzen, waren sowjetische Soldaten im ganzen Lande stationiert, sowohl in Großstädten als auch in kleineren Dörfern und Siedlungen. Das ermöglichte es, das Territorium effektiver zu kontrollieren und die Beziehungen zu der Bevölkerung zu verbessern."
— General Gromow
Die afghanischen Veteranen in Moskau. Copyright: Sputnik/Maksim Bogodvid
„Die 40. Armee erreichte tatsächlich einen bedeutenden Fortschritt in Afghanistan, wobei die Ziele erfüllt wurden, die hätten fortgesetzt werden können, wäre es nicht zu zahlreichen geopolitischen Wandlungen gekommen", so Gromow.
Im Unterschied zu den USA habe die Sowjetunion außerdem nicht vor gehabt, ihr politisches und wirtschaftliches System Afghanistan aufzudrängen, weil ihre Präsenz im Lande mit pragmatischen geopolitischen Interessen, vor allem Sicherheit, und nicht Ideologie verbunden gewesen sei.
„Ich bin aufrichtig stolz darauf, dass ich die Ehre hatte, unsere Soldaten zu führen, die zahlreiche Prüfungen auf dem afghanischen Boden bestanden, und ich bin für ihren Dienst dankbar."
— General Gromow
Generaloberst Boris Gromow verbrachte mehr als fünf Jahre in Afghanistan und wurde für seinen dortigen Dienst mit dem Titel des Helden der Sowjetunion ausgezeichnet. Später wurde er Gouverneur des Gebiets Moskau und leitete eine der größten Veteranenorganisationen in Russland: „Die Kampfbruderschaft".
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